10 - Wie ein Sohn

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Es hatte die ganze Nacht und weit in den Morgen hinein geschneit. Die Pflastersteine im Trainingshof verschwanden unter der flockigen weißen Decke, und selbst dort, wo die Kämpfe stattfanden, war der Schnee nur festgetreten und hatte sich in der Kälte noch nicht in Matsch verwandelt. Trotzdem galt es aufzupassen, in all der weißen Pracht nicht auszurutschen.

Liha parierte den Schlag seines Gegners und benutzte die Fliehkraft, wirbelte um seine Achse und griff von der linken Seite wieder an. Er hatte vor einigen Tagen herausgefunden, dass ihm diese Taktik gegenüber einem rechtshändigen Gegner einen Vorteil verschaffen konnte. Seine Versuch machte sich bezahlt. Die stumpfe Spitze seines hölzernen Trainingsschwerts rammte in die Rippen seines Gegners. Mit einer echten Waffe wäre der junge Mann wohl schwer verwundet gewesen und möglicherweise an der Verletzung gestorben. Dank seiner Schutzausrüstung fasste er sich nur überrascht an die Seite, stolperte rückwärts, glitt aus und landete mit einem unterdrückten Fluch auf dem Hintern im Schnee.

„Autsch, wie hast du das gemacht? Mit Magie?"

Liha reichte seinem Kollegen lachend eine Hand, um ihn wieder auf die Beine zu ziehen. „Ja, klar, wie denn sonst? Tut mir leid, das muss schmerzhaft gewesen sein."

„Geht schon. Wir sind schließlich hier, um etwas zu lernen." Der blonde Mann schlug sich den Schnee von der Kleidung. „Wenigstens habe ich gelernt, mich vor deinen Tanzschritten in Acht zu nehmen. Wollen wir noch einmal?"

Liha nickte, aber die angehenden Krieger erhielten keine Gelegenheit zu einer weiteren Runde.

„Haltet alle ein und hört mir zu." Die befehlsgewohnte Stimme des Waffenmeisters rief die jungen Männer zusammen. „Ich weiß, dass ihr euer Training kaum erst vor einem Mond begonnen habt. Ihr alle habt diese Zeit gut genutzt und bereits einiges gelernt. Und ich bin überzeugt, dass ihr noch viel mehr lernen werdet an dem Ort, an den ihr nun weiterzieht."

Er hielt inne, um die zwei Dutzend junger Krieger zu mustern, die um ihn herum versammelt waren. „Ihr werdet euch zum Heer des Königs gesellen und diesem nach Norden folgen, gegen die Horden der Lelliní, die unsere Grenzen bedrohen.

Einen Moment lang lag überraschte Stille über dem Hof, während die Neuigkeiten in das Bewusstsein der jungen Krieger einsanken. Dann lachte jemand auf und die Männer jubelten und trommelten mit ihren hölzernen Schwerter auf die Schilde. Der Tumult verschluckte alles, was der Waffenmeister zu seiner Rede noch hinzufügte.

Liha hielt sich zurück, aber das Feuer der Entschlossenheit, das in seiner Brust schwelte, erhielt neue Nahrung. Auf dem Marsch gegen die Feinde des Königs würde er endlich Gelegenheit erhalten, die nördlichen Söldner für ihre Grausamkeit bezahlen zu lassen. Seine Zeit würde kommen und seine Rache rückte in Griffnähe. Ein schmales Lächeln verzog seinen Mund.

Der Offizier wartete, bis die Begeisterung etwas abebbte, und hob dann seine Stimme. „Ihr werdet übermorgen losziehen, zusammen mit einer Abteilung der königlichen Garde. Deshalb habt ihr den Rest des Tages frei, um euch von euren Familien, Freunden und Geliebten zu verabschieden. Morgen erwarten wir euch alle bei Sonnenaufgang hier im Hof. Bringt eure Waffen und alle Ausrüstung mit, die ihr benötigt. Jene, die ein Pferd besitzen, sollen es ebenfalls mitbringen. Der Stallmeister wird die Tiere morgen früh auf ihre Feldtauglichkeit prüfen. Sind noch Fragen?"

Ein Murmeln lief durch die Reihen der Männer, aber keiner äußerte sich laut. Der Waffenmeister nickte. „Gut, das ist dann wohl alles für heute."

Als der Offizier den Hof verließ, wurden die Stimmen lauter und die angehenden Krieger diskutierten mit Begeisterung ihren bevorstehenden Einsatz. Liha trat schweigend zur Seite. Nach den ersten schwierigen und anstrengenden Tagen hatte er sich recht gut in die Gruppe eingefügt und sogar den Respekt der meisten anderen gewonnen. Natürlich hatte es geholfen, dass er in Berim einen Freund hatte und dass sogar der Kronprinz Pentim ihn respektierte und offen zu ihm stand. Allerdings waren die beiden nur sehr sporadisch an den Trainings anwesend. Trotzdem gelang es Liha, Jonaims Sticheleien aus dem Weg zu gehen. Sein erklärter Feind vom ersten Tag an war zum Glück mit anderen Dingen beschäftigt und machte sich nicht die Mühe, ihn weiter zu verfolgen. Dennoch hatte Liha als Kind aus einem kleinen Weiler im Norden des Reiches kaum etwas gemeinsam mit den Söhnen der Edelleute und reichen Händler von Pernira.

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWhere stories live. Discover now