7 - Getrennte Wege

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Zwei Tage nach ihrer ersten Begegnung begleitete Liha Dánirah zum Stadttor. Die Sonne war gerade aufgegangen, aber die Gassen der Stadt lagen noch im Schatten. Er zog die Jacke um eng um die Schultern, aber seine Begleiterin schien die Kälte kaum wahrzunehmen. Sie schritt zügig aus und bog auf den Marktplatz ein.

So früh am Morgen waren die Betreiber dabei, ihre Stände herzurichten. Manche bogen sich bereits unter der Last der darauf ausgebreiteten Waren. Da gab es Gemüse, Obst, Käse, Gewürze, Brot und Eingemachtes. Ganz links am Platz reihten sich die Stände mit Fisch und Fleisch, auf der rechten Seite jene mit Süßgebäck und Leckereien. Trotz der frühen Stunde flanierte schon eine bunt gemischte Menge kauflustiger Kunden über den Markt, Frauen und Männer feilschten eifrig und begleitet von Kinderlachen.

Dánirah wich geschickt einem alten Mann aus, der eine mit mit aufgetürmten Kohlköpfen beladene Karre vor sich her schob, und hielt abseits des Verkehrs inne, der sich bereits durch das Stadttor ergoss.

„Danke, dass du mich begleitet hast, Liha, und viel Glück bei der Bewerbung heute."

Liha verzog den Mund und rieb sich verlegen den Nacken. „Ich danke dir. Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, alleine nach Norden zu reisen?" Der Gedanke, dass seine neue Bekannte einer Gruppe Söldner in die Arme laufen könnte, ließ ihn frösteln.

Dánirah lachte. „Wir Tannarí werden nicht umsonst das wandernde Volk genannt. Keine Angst, ich komme zurecht. Ich muss schließlich sicherstellen, dass Katims Brief seinen Empfänger so rasch als möglich erreicht." Sie klopfte auf ihre Tasche, wo sie am Morgen das versiegelte Pergament verstaut hatte. Naiins Besucher hatte es mitten in der Nacht vorbeigebracht, und die Tanna hatte darauf bestanden, dass sie nun unverzüglich aufbrechen musste.

„Und danach muss ich meine Mutter wiederfinden. Sie hat gesagt, wir würden uns in den nördlichen Prärien wieder treffen. Aber mit ihrem Husten hätte ich sie niemals alleine ziehen lassen sollen."

Der Gedanke an seine eigene Familie sandte einen schmerzhaften Stich durch Lihas Brust. Wohin auch immer er seine Schritte lenkte, er würde seine Liebsten niemals wiedersehen. Dabei würde er soviel um die Hoffnung geben, wenigstens jemanden von ihnen am Leben zu wissen. Aber er war allein, und Rache war der einzige Weg, ihnen seine Liebe zu beweisen. Es war deshalb bestimmt besser, Dánirah auf ihrem eigenen Pfad ziehen zu lassen. Hoffentlich würde sie ihre Mutter bald finden.

Wie es Berim bei ihrer Trennung getan hatte, legte er der jungen Frau eine Hand auf die Schulter. „Es war gut, dich kennenzulernen, Dánirah. Möge die Sonne hell auf deinen Pfad scheinen."

Sie lächelte und erwiderte die Geste. „Möge der Morgenstern deine Schritte leiten, für ewig und einen Tag — bis wir uns wiedersehen."

Bevor er die Tanna nach der Bedeutung dieses ungewöhnlichen Segenswunsches fragen konnte, drehte sie sich flink um und verschwand im Schatten des Torbogens.

Liha spürte den Blick des Torwächters auf sich ruhen. Der Krieger in den königlichen
Farben beaufsichtigte die Treppe, die zum Wehrgang auf der Stadtmauer führte, und zwinkerte ihm zu. „Willst du hochsteigen, um deiner Liebsten zum Abschied zu winken?"

So überraschend das Angebot kam, Liha zögerte nicht, es anzunehmen. Unter dem wissenden Grinsen des Mannes eilte er die hölzernen Stufen empor. Der breite Rundgang, der sich entlang der Mauer zog, erlaubte zwischen den massiven Mauerzinnen hindurch einen ungestörten Blick auf das Haontal und die Straße, die sich nach Norden im Morgennebel verlor.

Da draußen ging sie, Dánirah — außer der freundlichen Naiin die einzige Person, die er in Penira gekannt hatte. Mit langen Schritten und wehendem Rock bewegte sie sich sie durch die Reisenden wie eine Tänzerin. Die Zipfel ihres schwarzen Schals flatterten im frischen Wind und ihr Zopf hüpfte bei jedem Schritt. Lihas Herz stockte einen Moment. Dánirah hatte ihm bereits in jener ersten Nacht im Dachgarten erklärt, dass sie die Stadt sobald als möglich verlassen werde. Dass sie am Ende zwei Tage länger blieb, verdankte er nur Naiins wichtige  Besucher. Er bestand darauf, die Botin müsse auf eine Antwort des Königs warten, um sie zu den Ältesten der Tannarí zu bringen. Jetzt, da Dánirah tatsächlich wegging, schmerzte ihn das beinahe so sehr wie damals der Verlust seines Bruders.

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt