9 - Begegnung am Keli

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Der Winter hielt das Land Kelèn noch fest im Griff, als Dánirah durch das Haontal nach Norden zog. Sie wanderte tagsüber mit langen Schritten, um die Kälte der Nacht aus ihren Gliedern zu vertreiben. Immerhin war das Wetter meist gut und die Sonne gewann gegen Mittag genügend Kraft, dass sie ihre Jacke ausziehen konnte. Zum Glück blieben die tieferen Lagen des Tals vom Schnee verschont und die gepflasterte königliche Straße erlaubte ihr, zügig voranzukommen. Aber die Straße hatte auch einen Nachteil. In dieser dicht besiedelten Gegend war es kaum möglich, vom Land zu leben. Ihre von Naiin gespendeten Vorräte waren längst aufgebraucht und spätestens morgen musste sie neue besorgen. Wie sie das anstellen wollte, war ihr noch ein Rätsel.

Der Abendnebel verdichtete sich über dem Fluss Keli, als sie den Ort Sitaja erreichte. Im goldenen Licht der untergehenden Sonne stieg sie auf einen kleinen Hügel westlich der Straße, um die berühmte Brücke zu bestaunen. Die königlichen Baumeister hatten in der reißenden Strömung fünf massive Steinpfeiler errichtet und sie mit einer hölzernen Konstruktion verbunden. Diese wurde von einem Dach geschützt, wohl damit die mächtigen Balken nicht zu rasch verrotten konnten.

Im Sommer hätte Dánirah wohl die Furt benutzt, die eine Tageswanderung flussaufwärts lag. Aber jetzt, wo in den Bergen bereits die Schneeschmelze eingesetzt hatte, wäre es viel zu gefährlich und zu kalt, den Keli zu Fuss oder schwimmend zu überqueren. 

Dánirah legte eine Hand über die Augen. Ob es wohl besser war, die Brücke heute noch zu queren und sich auf der anderen Seite nach einer Schlafgelegenheit umzusehen? Eine Gruppe von Häusern mit tiefhängenden Schilfdächern drängte sich am Brückenkopf auf der anderen Flussseite zusammen. Vielleicht würde sie eine leere Scheune oder einen Stall finden, der von der Körperwärme der Tiere gewärmt wurde. Oder sie konnte es im Gasthaus auf dieser Brückenseite versuchen und den Wirt bitten, sie im Austausch gegen eine Mahlzeit und einen Schlafplatz in der Küche vor den Gästen singen zu lassen.

Seit ihrer Abreise aus Penira hatte sie dies zweimal getan, aber beide Male in Gaststätten, die sie von früheren Reisen mit ihrer Mutter kannte. Dánirah widerstrebten solche Auftritte, weil sie sich allzuoft gegen Übergriffe von Reisenden wehren musste, die glaubten, eine junge Tanna alleine unterwegs sei eine leichte Beute. Aber sie musste essen, wenn sie der Kälte trotzen wollte. Zumindest schätzten die meisten Keleni ihre Stimme, oder sie fanden ihr exotisches Aussehen interessant genug, sie für ihren Gesang zu bezahlen.

Unentschlossen rieb sie sich die ausgekühlten Hände.

„Ein schönes Bild, diese Brücke im Abendlicht."

Die Sprecherin benutzte die alte Sprache des Volks der Dämmerung. Dánirah drehte sich, um die Tanna zu grüßen, die sich mit leichten Schritten zu ihr gesellt hatte. „Das stimmt, und viel weniger gefährlich, als den Fluss in einem Boot zu queren."

Die Frau schüttelte lachend ihre Mähne aus schwarzen Zöpfchen. „Da bin ich ziemlich sicher. Die Stromschnellen des Keli gelten nicht ohne Grund als gefährlich oder sogar unbefahrbar." Sie streckte Dánirah die geöffneten Hände entgegen. „Ein erfreuliches Treffen, Tochter der Dämmerung. Mein Name ist Orinai."

„Oh." Dánirah erwiderte die Geste. Sie kannte den Namen der Heilerin, konnte sich aber nicht erinnern, ihr schon einmal begegnet zu sein. Orinai trug den schwarzen Schal mit der geknüpften Borte einer geachteten Person im Volk, war aber jünger, als Dánirah geglaubt hatte. „Ein glückliches Treffen, Orinai. Mein Name ist Dánirah."

„Dánirah, Shonai's Tochter?" Orinai hob die Brauen. „Reist die Träumerin nicht mit dir?"

„Leider nein, wir mussten uns trennen und haben vor, uns weiter im Norden wieder zu treffen." Sie war nicht sicher, wieviel ihres Plans sie preisgeben sollte.

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWhere stories live. Discover now