12 - Der ungekrönte König

37 8 2
                                    

Der Anblick von einem Dutzend halbkugelig gewölbter Zelte ließ Dánirahs Herz höher schlagen.
Die einfachen Behausungen der Tannarí drängten sich in einer Lichtung rings um ein flackerndes Feuer zusammen wie eine Herde friedlich schlafender Tiere. Gelächter und der fröhliche Klang einer Flöte hingen in der Luft und ein Hund bellte, als sich die Reisenden der Siedlung näherten.

Die Musik und die Stimmen verstummten. Wenige Augenblicke später trat eine Gruppe von  Gestalten in dunkler Kleidung zwischen den Zelten hervor, Männer und Frauen. Orinai schob ihren Schal zurück, den sie sich gegen die Kälte über die Haare gezogen hatte, so dass ihr Gesicht im flackernden Schein der Fackeln erkennbar war.

„Orinai, du bist wieder da." Eine kleingewachsene Frau mit grauen Strähnen in ihrem langen Haar trat vor und ergriff die Hände der Heilerin. „Willkommen zuhause, meine Nichte. Und auch euch, He'sha und A'shei." Als ihr Blick auf Dánirah fiel, die sich etwas zurückgehalten hatte, weiteten sich ihre Augen. „Dánirah-ana-Shonai. Es ist sehr lange her, seit sich unsere Pfade kreuzten. Willkommen auch dir, Tochter der Träumerin."

Beim Anblick des bekannten Gesichts floss eine warme Welle der Freude durch Dánirahs Adern. „Senai, es ist wunderbar, dich zu sehen."

Sie erinnerte sich an den Winter, den die Seherin in ihrem Lager in Atara verbracht. Senai war eine alte Freundin ihrer Mutter und nebenbei die beste Geschichtenerzählerin, die Dánirah kannte. Die ältere Frau lud die Angekommenen in ihr Zelt ein.

Als Dánirah sich durch den Eingang duckte, schlug ihr der appetitanregende Geruch eines Eintops entgegen. Eine Frau rührte in einem großen Topf, der über einem Becken mit glühenden Kohlen hing. „Orinai und He'sha. Schön, dass ihr zurück seid. Wie geht es denn dem kleinen A'shei?"

„Alles bestens. Wie du siehst hatten wir einem langen Tag, er schläft schon." Orinai legte das Kind auf eine fellbedeckten Pritsche und zog eine Decke über den kleinen Körper. „Naoràn, darf ich dir Dánirah vorstellen? Sie ist die Tochter der Träumerin."

Es war unschwer zu erkennen, dass Naoràn Senais Tochter sein musste. Sie lächelte Dánirah zu. „Willkommen. Ihr kommt gerade rechtzeitig, das Essen ist schon fast bereit. Nehmt Platz."

Sobald die Reisenden ihre nassen Schuhe ausgezogen und zum Trockenen ans Feuer gestellt hatten, verteilte sie Becher mit heißem Tee. Dánirah ließ sich nicht bitten. Es gab nichts schöneres als nach einem langen Tag unterwegs die Gastfreundschaft in einem Lager der Tannarí zu genießen. Sie hatte sich lange nach deren Einfachheit und Selbstverständlichkeit gesehnt.

Sobald alle den ersten Schluck genommen hatten, wandte sich Senai an He'sha. „Ich weiß nicht, ob du die Neuigkeiten schon gehört hast. Dein Onkel verließ uns während dem Frostmonat."

„Onkel Jona?" He'sha blinzelte und senkte den Blick. „Nein, davon wusste ich noch nichts."

„Er hat sich nie ganz von dem Fieber erholt, das ihn damals während der Hungersnot heimsuchte. Aber das weißt du ja." Senai zog sich den schwarzen Schal um die Schultern als würde die Erinnerung sie frösteln lassen. „Du bist also jetzt der ungekrönte König."

„Was?" He'sha blickte auf und tauschte einen überraschten Blick mit Orianai. „Ich wusste nicht, dass der Titel an mich übergeht."

Senai nickte. „Du bist der nächste in der Linie, und nach dir dein Sohn A'shei."

„Was bedeutet das eigentlich?" Dánirah hatte den Titel natürlich schon gehört, wusste aber nicht, was genau dieser beinhaltete. Ein Rat von Ältesten lenkte das Geschick der einzelnen Tannarí-Gruppen, bei denen sie schon gelebt hatte. Eigentliche Anführer gab es nicht. Zudem wurde in der Regel alles in der mütterlichen Linie vererbt.

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWhere stories live. Discover now