28 - Die Träumerin

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Im ersten Licht der Dämmerung wickelte sich Dánirah den Schal um die Schultern und schlich sich leise aus dem Feldlager, um den neuen Tag zu begrüßen. Ihre Nacht war sehr kurz ausgefallen und der Morgen schien ihr so grau und eintönig wie ihre Stimmung. Dunkle Wolken hingen tief am Himmel und versprachen weiteren Regen. Ein kalter Wind strich durch das Grasland und drang durch ihre Kleidung.

Irgendwo hinter ihr zwitscherte ein Vogel, ungerührt von der Zerstörung, die von den Menschen mit ihren Feindseligkeiten in das friedliche Flusstal des Geai getragen worden war. Das fröhliche Lied übertönte das entfernte Stöhnen eines verwundeten Kriegers. Vermochte aber nicht, ihre Stimmung aufzuheitern.

Dánirah hatte die Nacht in dem Zelt verbracht, in das Dánans freiwillige Helfer die Verwundeten brachten, um sie der Heilerin zu zeigen. Zusammen mit Shonai hatte sie sich um die Krieger bemüht, während heftiger Regen auf das Zeltdach trommelte. Die Heilerin hatte unermüdlich ihre Schattenmagie eingesetzt, bis sie in der Dunkelheit nutzlos wurde. Und trotz Dánans selbstlosem Einsatz war ihre Hilfe für einige der Männer zu spät gekommen.

Leichte Schritte ließen das Gras rascheln und vertrieben für einen Augenblick die düsteren Bilder, deren Zeuge Dánirah währen dieser Nacht geworden war. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wer da kam.

„Mutter. Konntest du dich einen Moment lang ausruhen?" Shonai hatte vermutlich noch weniger Schlaf bekommen als sie selbst.

Die Träumerin blieb an der Seite ihrer Tochter stehen und schlang die Arme um sich. „Es geht mir gut, Dáni. Und vorhin hatte ich einen interessanten Traum."

Dánirah war nicht überrascht. „Ich hoffe, er handelte für einmal nicht von einem Krieg."

„Nein, ein Krieg kam darin nicht vor, aber dafür gab es viele Rätsel. Der Traum sendet mich in das Hochland von Eshekir."

Eshekir — die karge Gegend, die Dánirah als ihr wahres Zuhause ansah. Das würde eine lange und anstrengende Reise werden, aber sie würde endlich ihre geliebten Berge wiedersehen. „Wann brechen wir auf?"

„Bald." Shonais Lächeln verblasste. „Wirst du denn mit mir kommen, Dáni?"

„Wie kannst du daran zweifeln? Natürlich werde ich mit dir reisen."

Ihre Mutter schwieg, während sie zusammen die dünnen Schwaden der Morgennebel beobachteten, die vom Fluss her über das Schlachtfeld rollten. Halb verschleiert zeichneten sich die Kadaver der Pferde als dunkle Hügel in der Ebene ab. Es waren so viele, und genauso viele Männer. Dánirah fröstelte beim Gedanken an all die Toten.

Ihre Mutter schien ihre Stimmung zu verstehen. „Das alles ist nicht dein Fehler, Dáni. Du hast etwas großartiges getan und einen schlimmeren Ausgang dieser Geschichte mit verhindert. Außerdem hast du bewiesen, dass du alt genug bist, deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich möchte deshalb nicht, dass du mich begleitest, wenn du lieber woanders sein möchtest. Oder bei jemandem anderen."

Shonai hatte bemerkt, wie viel ihr Liha bedeutete. Aber die Dinge waren komplizierter, als Dánirah es sich wünschte. Seine Taten hatten den jungen Krieger über Nacht ins Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben. Bereits gestern Abend hatte Katim nach ihm und He'sha gesucht und behauptet, sie müssten unbedingt der Ratsversammlung des jungen Königs beiwohnen. Dánirah musste lachen, als sie sich an Lihas gequälten Gesichtsausdruck erinnerte, aber Katim hatte ein Nein nicht akzeptiert.

„Liha ist durch seine Pflicht an den jungen König gebunden, Mutter. Ich kann dorthin, wohin er geht, nicht folgen."

„Und trotzdem sehnt sich dein Herz nach ihm, meine Tochter." Shonai hob das Gesicht zum Himmel und schloss die Augen. „Du wirst ihn wieder treffen, Dáni. Und nein, ich weiß nicht, wann und wo es geschehen wird, aber verlass dich darauf, das Schicksal wird euch wieder zusammenführen."

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWhere stories live. Discover now